Zeitlupe
Langsamkeit wieder entdecken
Vieles in unserer Welt und in unserem Leben geht viel zu schnell. Es stürmen Tag für Tag Millionen von Nachrichten, Sinneseindrücken, Anforderungen, Aufgaben, Herausforderungen und Gedanken auf uns ein. Durch unsere selektive Wahrnehmung filtern wir das heraus, was uns in unserer Meinung, die wir sowieso schon haben, bestätigt. Und gleichzeitig schützen uns die Wahrnehmungsfilter vor dem Hirn-Kollaps. Würden wir alles ungefiltert wahrnehmen, könnten wir nicht einen einzigen Tag mental gesund überleben. Außer wir würden diesen Tag im Lotusblütensitz in einer Höhle verbringen. Aber das wäre schon die Lösung. Es geht mir darum, dass wir den wahnsinnigen Alltag mit den Millionen Eindrücken überleben und dabei mental und seelisch gesund bleiben.
Es gibt gute Impulse, um das Ganze, was uns umgibt, abzubremsen. Ich schreibe ganz bewusst „können“ und „dürfen„, nicht „müssen“ oder „sollen„, denn unsere Sprache macht etwas mit uns. Und alles, was wir „müssen“ oder „sollen“ ist nicht wirklich attraktiv für uns. Die folgenden Impulse „können“ oder „dürfen“ wir, weil es uns gut tut und unserer Seele Auszeiten ermöglicht:
- Wir dürfen unser Handy mindestens drei Stunden täglich auf Flugmodus stellen. Wer etwas Wichtiges möchte, spricht auf die Mailbox. So reduzieren wir die Anzahl der Unterbrechungen. Und schützen so unser hohes Gut, nämlich unsere Konzentrationsfähigkeit.
- Wir können eine Woche lang keine Nachrichten mehr hören oder sehen. Und diese gewonnene Zeit ganz bewusst mit einer vergnüglichen Lektüre verbringen (oder in der Höhle).
- Wir dürfen uns bewusst machen, dass fast alles Zeit hat. Ich muss eine Mail nicht sofort beantworten. Ich kann mir dafür auch mindestens einen Tag lang Zeit lassen, wenn es keine Terminsache ist. Und selbst bei Termin-Dingen geht die Welt meistens nicht unter, wenn es einen Tag später ankommt (nicht einmal beim Finanzamt).
- Wir dürfen uns keine Sorgen machen! Wir können uns bspw. die Sorgen auf Termin legen: „Freitagnachmittag von 15.00-17:00 Uhr: Sorgen machen“. Nicht vorher und nicht nachher. Wenn wir den Sorgen einen Termin geben, dann müssen sie warten, bis sie dran sind. Das funktioniert. Ich habe es selbst ausprobiert. Und ich heiße Sorge mit zweitem Vornamen.
- Wir können lernen, uns auf unseren Atem zu konzentrieren. Fünfmal bewusst tief ein- und ausatmen. Das verlangsamt den Herzschlag, drosselt die Adrenalin- und Noradrenalinzufuhr, die meistens durch unseren Körper jagt und fördert die Kreativität, die uns im Geschwindigkeitsrausch regelmäßig abhanden kommt.
- Wir dürfen insgesamt langsamer werden. Das gelingt gut, indem wir kurz die Augen schließen und uns ein Faultier vorstellen. Dafür sollten wir vorher eine Doku über Faultiere gesehen haben, sonst wissen wir nicht, wie unglaublich langsam sich Faultiere tatsächlich bewegen! Wir können uns auch ein Bild von einem Faultier oder einer Schildkröte an unsere Pinnwand pinnen (oder an den Kühlschrank, auf das Laptop oder den Schreibtisch.)
- Wir können uns einen Wecker stellen, der uns an regelmäßige Pausen erinnert. Mit Pausen regenerieren wir unseren Körper und unseren Geist, die beide nach der Pause deutlich fitter weiter arbeiten können.
- Wir können die Zeitlupe einschalten, wenn wir etwas gesagt oder getan haben, das wir bereuen. Wenn etwas geschieht, eine Situation eintritt, bei der wir handeln und uns danach ärgern, dass wir nicht anders gehandelt haben oder wir schlagfertiger sein wollten, dann ist es gut, sich das Ganze in Zeitlupe anzusehen. Denn zwischen der Situation und der Handlung liegen viele andere Sequenzen, die wir in der Schnelligkeit nicht bewusst erkennen können. Wenn eine Situation auftaucht, müssen wir nicht sofort reagieren. Wir können einmal tief ein- und ausatmen und erkennen dann, dass Gedanken entstehen („Was will der denn jetzt von mir? Als hätte ich nicht schon genug zu tun! „Habe ich etwas falsch gemacht?“ „Oh, nicht der schon wieder!“), wir sehen weiterhin, dass Glaubenssätze auftauchen („Das hätte ich perfekter machen müssen!“ „Beeil dich!“ „Ich bin nie gut genug!“). Nicht nur Glaubenssätze tauchen auf, sondern auch erlebte und innere Muster, die wir aus unserer Biographie gelernt haben, entstehen in uns („Jetzt kommt die Strafe, schnell weg!““Menschen sind grundsätzlich schlecht und wollen mir nichts Gutes!“). Daraufhin entstehen Gefühle (Angst, Groll, Wut, Abscheu). Und erst nachdem das alles in uns entstanden ist, reagieren wir. Wir reagieren nämlich nie auf die Situation sondern immer aufgrund dessen, was in uns durch die Situation an Gedanken, Glaubenssätzen, Mustern und Gefühlen entstanden ist. Und das alles erkennen wir nur, wenn wir die Zeitlupe eingeschaltet haben.
- Wir dürfen uns mit Menschen umgeben, die uns Ruhe vermitteln. Unruhige, hektische Menschen dürfen wir meiden. Wenn es möglich ist, gehen wir auf Distanz zu den Menschen, die uns zu mehr Schnelligkeit treiben und uns Druck machen. Wenn es unser Chef ist, können wir das so lange aushalten, bis unsere mentale Gesundheit stark gefährdet ist. Spätestens dann sollten wir an berufliche Neuorientierung denken. Oder machen langsamer und merken meistens, dass auch das möglich ist. Oder wir führen ein Gespräch. Direkt, offen und klar. Und tragen die Konsequenzen, die daraus entstehen. Aber vor dem Gespräch bitte die Zeitlupe aktivieren, sonst wird es eine impulsive Kündigung, die man vielleicht später bereut. Später kann auch 5 Minuten später schon sein. Aber es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass man nicht alles ertragen muss und man sich die Menschen wählen kann, mit denen man sich umgibt.
- Beim „langsamer werden“ hilft Üben. Gerade, wenn wir schnell unterwegs waren bisher, brauchen wir eine Zeit des Übens, bis wir überhaupt merken, dass wir schon wieder schneller unterwegs sind als der Schall. Dann hilft es, uns ein inneres „Ganz langsam“ zuzuflüstern und langsamer zu gehen, zu reden, zu schreiben und zu denken.
- Wir können die Menschen, die uns nahe stehen, in unser Vorhaben einweihen und sie bitten, uns daran zu erinnern, wenn wir wieder mal zu schnell unterwegs sind. Das sind wahre Schätze!
Ich wünsche uns allen viel Freude beim Üben, ein nettes Faultier als Haustier, Zeitlupen als neue Mobiles und Menschen, die uns Ruhe und Frieden geben.
© Marion Schronen