Wertfreiheit
„Jenseits von richtig und falsch gibt es einen Ort – dort treffen wir uns.“ Rumi
Es liegt in der Natur des Menschen, zu beurteilen und zu bewerten. Das ist ein archaisches Momentum, da wir in grauer Vorzeit blitzschnell bewerten mussten, ob etwas Gefährliches auf uns zukommt oder ein harmloses Tier. Da es in grauer Vorzeit vor gefährlichen Tieren nur so wimmelte, sind wir auch heute noch viel eher darauf gepolt, das Negative in unserer Umgebung wahrzunehmen und nicht das Positive. Wer einen Säbelzahntiger vor sich sieht, hat keine Zeit und auch keine Muße, die Blumen am Wegesrand zu bewundern.
Darum liegen Bewertungen und Urteile in unserer Natur. Nun sind wir natürlich der grauen Vorzeit entwachsen, aber noch immer lebt dieses, „Reptiliengehirn“ genannte, Teil des Gehirn, das stammesgeschichtlich das älteste ist, in uns. Es erfordert also sehr viel Selbstreflexion und Bewusstheit, aus diesem Automatismus auszusteigen.
Nichts aber wirkt so nährend auf unseren Seelenfrieden als das bewusste Aussteigen aus Urteilen und Wertungen.
Wenn wir den Anderen so sehen können, wie er ist, ohne ihn sofort zu bewerten („Wie der angezogen ist! Und seine Stimme erst. Kann der sich nicht mal rasieren morgens?“), wie wir es tagtäglich tun, erst dann verändert sich etwas in unseren Begegnungen und besonders in unserem Innern. Wir sind freier, fühlen uns leichter und begegnen den Anderen mit einer größeren inneren Offenheit und Güte. Und da wir ausstrahlen, was wir sind, werden die Menschen auch freundlicher, weil unsere Haltung durch unsere Offenheit freundlicher geworden ist.
Die Achtsamkeit beschäftigt sich mit der Wertfreiheit und ist außer dem Dasein im Hier und Jetzt und der Konzentration auf den Augenblick Grundlage, um zu dieser inneren Ruhe zu gelangen.
„Beobachten ohne zu Bewerten ist die höchste Form der menschlichen Intelligenz.“ Krishnamurti, indischer Philosoph
Wie gelangen wir zur Wertfreiheit?
Wertfreiheit erlangen wir durch Übung. Es erfordert eine große Bewusstheit, um von der automatischen Bewertung, die in uns abläuft, weg zu kommen.
Zuerst einmal machen wir uns bewusst, wann wir bewerten.
Wir beobachten, wie oft und vor allem wann und wo, in welchen Situationen, wir bevorzugt bewerten und urteilen. Sind es bestimmte Menschen, die wir umgehend bewerten? Sind es Situationen, die wir verurteilen? Was sind die Auslöser für unsere Bewertungen? Welche Bewertungen haben wir besonders gern, von denen wir uns nicht verabschieden möchten. Rechtfertigen wir unsere Urteile mit gesundem Misstrauen?
Wertfreiheit meint nämlich nicht, dass wir allen naiv vertrauen und nicht mehr vorsichtig gegenüber dem sind, was wir an uns heranlassen. Wertfreiheit meint jedoch, alles wahrzunehmen, so wie es ist. Ich kann mich entscheiden, dass ich mit einem Menschen nicht näher in Verbindung gehen oder bleiben möchte. Ich muss ihn dafür nicht bewerten. Ich spüre lediglich, ob ich seine Nähe möchte und ob sie mir gut tut. Dafür kann ich wertfrei in mich hineinspüren. Mein Körper gibt mir klare Signale. Wenn ich ein seltsames Gefühl im Bauch habe, dann sollte ich darauf hören und mich schützen. Ich kann über mich sprechen und spüren: „Ich fühle mich in der Nähe des Anderen nicht wohl“ und kann daraufhin gehen und mich entscheiden, die Nähe dieses Menschen nicht mehr aufzusuchen oder möglichst zu vermeiden (wenn es um berufliche Begegnungen geht). Das ist eine wichtige Entscheidung für meine Seele. Das ist kein Verurteilen, das ist ein Hineinspüren in sich und ein Schutz des eigenen Inneren. Dabei geht es um die innere Passung und nicht um ein äußeres Urteil eines Anderen. Je wertfreier und offener wir jedoch werden, umso eher werden wir das Gute im Anderen erkennen, das sich manchmal erst zeigt, wenn man gütig und wohlwollend auf den Anderen zugeht. Weil Menschen sich meist erst öffnen und weich werden, wenn sie spüren, dass der andere es gut mit ihnen meint und die Schwäche des anderen mit Respekt und Güte behandeln.
Wir können uns täglich bemühen, Menschen und Situationen wertfrei zu beschreiben. Stellen wir uns vor, wir sehen, wie zwei Menschen sich streiten. Dann können wir beobachten, dass ein Mensch große Gesten mit den Armen macht und sein Gesicht rot ist. Der andere verschränkt die Arme und redet, noch während der Andere spricht. Das sind Beobachtungen. Wenn ich zu dieser Szenerie Dinge denke wie: „Da schreit einer den Anderen an und schlägt wild um sich, möchte den anderen gerne schlagen, während der Andere seine Arme ängstlich verschränkt und versucht, sich zu verteidigen!“, dann ist das eine Wertung. Wir werten, was wir sehen, wir beobachten nicht nur. Und diese Wertung kann ganz an der Realität vorbei gehen.
Und die Bewertung einer solchen Situation ist harmlos im Vergleich zu dem, was und wen wir bewerten, der in unserer Umgebung lebt oder arbeitet.
Unsere Wertungen und Urteile haben immer etwas mit UNS zu tun und sagen viel mehr über uns selbst aus als über den, den wir bewerten. Wenn uns das bewusst wird, dann ist es eindeutig, bei wem wir mit unserer Veränderung ansetzen müssen: immer bei uns selbst. Einen anderen Menschen als uns selbst können wir sowieso nicht verändern. Es steht uns auch nicht zu. Mit uns selbst haben wir genug zu tun.
Diese Wertfreiheit gilt auch uns selbst gegenüber. Perfektionisten bewerten und verurteilen sich selbst stark, wenn sie einen Fehler begehen. Andere verurteilen sie genau so heftig für einen Fehler. Wir sollten uns gegenüber die gleiche Milde, Güte und Wertfreiheit ausüben wie gegenüber anderen Menschen und Situationen.
Indem wir uns bewusst machen, wann wir werten und urteilen, können wir bewusst diese Gedanken stoppen und friedvolle Gedanken an deren Stelle setzen. Wir wissen so wenig über den Anderen, von Situationen, von der Biographie der Anderen, warum sie geworden sind, was sie sind, dass es eine Anmaßung ist, über sie zu urteilen.
Eine indianische Weisheit sagt: „Urteile nie über einen Menschen, bevor du nicht einen Mond lang in seinen Mokassins gegangen ist.“ Und nach diesem Monat erübrigt sich jedes Urteil. Weil an die Stelle des Urteils Verstehen und Milde getreten ist. Jeder Mensch gibt sein Bestes, das ihm möglich ist. Jeder Mensch versucht, mit jeder seiner Handlung(en) ein Bedürfnis in sich zu stillen (mehr darüber im Artikel Bedürfnisse).
Mit einer inneren Güte und Milde, mit Verständnis und Wertschätzung gelingt es, immer mehr, seine Bewertungen los zu lassen. Und dann stellt sich ganz langsam ein tiefer innerer Frieden ein und wir werden zu offeneren und verständnisvolleren Wesen. Das braucht diese Welt. Mehr als alles andere.
„Urteile (auch über mich selbst) sind ein tragischer Ausdruck unerfüllter Bedürfnisse.“ (Marshall B. Rosenberg)
© Marion Schronen