Wahrnehmung – Grundlage für gute Begegnung und Kommunikation
Wir Menschen nehmen grundsätzlich selektiv wahr.
Wir nehmen nie alles in unserer Umgebung, an Menschen, Texten und Situationen wahr, sondern immer nur Einzelheiten. Es ist wichtig, sich das ganz bewusst zu machen: wir nehmen immer nur einen Bruchteil der existierenden Welt wahr. Unsere Sinne und Gehirnleistung sind begrenzt.
Und nicht nur das:
– Unser Gehirn sortiert außerdem nach Relevanz: Wie wichtig sind mir bestimmte Dinge? Diese Dinge nehme ich dann auch stärker wahr bei Menschen, Texten und in Situationen.
– Auch nehmen wir vor allem das wahr, was uns wichtig ist. Wenn wir Hunger haben, sehen wir das Restaurant und können nicht sagen, ob neben dem Restaurant ein Buchladen ist, auch wenn er kaum zu übersehen ist.
– Unsere Wahrnehmung wird außerdem noch durch verschiedene Faktoren beeinflusst und ist immer subjektiv, das heißt von den jeweiligen Erfahrungen, Einstellungen, Bedürfnissen, inneren Glaubenssätzen und unserer Biographie geprägt. Und das ist eine sehr komplexe und individuell verschiedene Mixtur, die jedes Wahrnehmen von allem höchst individuell und subjektiv macht.
Somit hat jeder Mensch Recht mit dem, was er wahrnimmt, immer von seiner ganz eigenen Perspektive aus gesehen.
Um eine gute Begegnung zu ermöglichen, ist es notwendig, sich in die Perspektive des Anderen hinein versetzen zu können. Dieser Perspektivenwechsel ist umso einfacher, je besser man sich in andere einfühlen kann. Empathie und Perspektivenwechsel gehören untrennbar zusammen. Perspektivenübernahme macht eine gute Kommunikation aus: Warum nimmt der andere dies so wahr? Was hat ihn geprägt? Warum nimmt er alles andere an der Situation nicht wahr?
Wir alle kennen Menschen, die an einer Situation nur das Negative wahrnehmen, sogar das Negative, das wir niemals wahrgenommen hätten, weil es für uns nicht existent ist. Hier ist es wichtig, nicht zu werten, sondern sich bewusst zu machen, dass der andere aus seinen inneren Einstellungen und aus seinem Gewordensein heraus die Dinge so wahrnimmt, wie er es tut.
– Zusätzlich haben wir Menschen „subjektive Theorien“ in uns, die wir durch die Kindheit und Erziehung gelernt haben. Subjektive Theorien werden im Laufe der eigenen Biographie entwickelt. Sie sind fester Bestandteil unseres subjektiven „Weltwissens“. Das Besondere ist, dass diese Theorien sich unbewusst und unkontrolliert manifestieren, was dazu führt, dass sie nur sehr schwer aufzubrechen sind. Wer als Kind von einem Hund mehrmals gebissen wurde, wird auch als Erwachsener Hunde als bissig wahrnehmen und mehr Angst vor Hunden entwickeln. Wer Hunde als liebevolle Wesen in der Kindheit erlebt hat und als Erwachsener einmal gebissen wird, wird dennoch Hunde als liebevoll und nicht in erster Linie als bissig wahrnehmen.
Subjektive Theorien haben einen großen Einfluss auf die Handlungsorientierung des Menschen, das heißt, diese Theorien und die daraus resultierende Wahrnehmung wird die Handlung steuern. Der Erwachsene, der als Kind mehrfach gebissen wurde von Hunden wird nicht im Wald spazieren gehen, wo Hunde meist unangeleint herumlaufen, so seine subjektive handlungsleitende Theorie. Subjektive Theorien dienen zum Anderen dazu, dass man sich verschiedene Bereiche seines Leben erklären kann. Meist teilen Menschen diese Theorien nicht mit anderen, da sie unbewusst sind. Man kann sich seine subjektiven Theorien jedoch bewusst machen, in dem man seine Kindheit näher beleuchtet und damit annähernd versteht, warum man welche Sicht der Welt erlangt hat. Diese subjektiven Theorien beeinflussen also stark unsere Wahrnehmung: Muss jemand Menschen in Schubladen stecken und generell in Schubladen denken, damit er alles möglichst schnell und gut einordnen und sortieren kann, weil die Welt das damals für ihn als Kind erfordert hat? Weil er in einer solch chaotischen Umgebung aufgewachsen ist, dass er Ordnung braucht? Weil er davon ausgeht, dass alles Chaos ist und er das nicht aushalten könnte?)
– In für uns neuen Situationen nehmen wir eher das Vertraute als das Fremde wahr. Wir suchen z.B. in einer neuen Gruppe nach Bekanntem oder nach dem, was mir ähnlich ist. Gibt es noch welche, die eher still sind , so wie ich?
– Unsere Wahrnehmung ist auch abhängig von der jeweiligen Situation und von dem dazugehörigen und/oder jeweiligen Zusammenhang: Laute Musik in der Disko ist normal und gut, ich kann darauf tanzen und genieße sie. Wenn ich aber schlafen möchte, und die Musik kommt aus der Wohnung meines Nachbarn, ist sie nervend und nicht auszuhalten. Auch ein Kreis kann eine Null oder ein Buchstabe sein, je nach Zusammenhang.
– Immer auch schreiben wir unserer Wahrnehmung Bedeutungen zu. Das meint, wir interpretieren das, was wir wahrnehmen. Wenn wir z.B. das lachende Gesicht des Kollegen sehen, interpretieren wir vielleicht: „Er lacht mich aus!“ oder aber „Er mag mich!“ Diese Interpretation hängt natürlich von unserer subjektiven Theorie ab, es ist jedoch auch so, dass wir die die selbe Situation immer anders interpretieren, je nachdem, wie unsere innere Verfassung, unsere Stimmung ist. Sind wir sowieso verletzlich an einem Tag, so interpretieren wir ein Lachen oder auch einen Scherz ganz anders und reagieren auch verletzlicher.
Was uns freier machen könnte, wäre, dass wir lernen, wahrzunehmen, ohne zu (be)werten oder zu interpretieren. Das kann man sehr gut durch Achtsamkeitsübungen lernen. Dazu aber in einem anderen Artikel mehr.
– Wahrnehmung ist immer eine Sache des Standortes. Auf welcher Seite stehe ich: Ein Patient nimmt seine Krankheit anders wahr als der Arzt. Und dieser Patient nimmt ein Gespräch anders wahr als der Arzt (Patient: „Der Arzt hat mir nichts Wichtiges gesagt!“ Arzt: „Ich habe dem Patienten alles Wichtige gesagt!“)
1) Es gibt bei uns Menschen verschiedene Wahrnehmungsebenen, und -kanäle:
Womit nehmen wir alle und alles wahr? Was ist mein Hauptwahrnehmungskanal?
– Unsere Hauptwahrnehmungskanäle sind die Augen (visuell), unsere Ohren (auditiv) und unser Tastsinn (kinästhetisch)
– Nebenwahrnehmungskanäle sind unsere Nase (olfaktorisch) und unser Geschmackssinn (gustatorisch)
– Es gibt zusätzliche Wahrnehmungskanäle, die feinsinniger sind und geschult werden können: unsere Gefühle (emotional), unser „Bauchgefühl“ Intuition, intuitiv) und auch unseren Verstand (analytisch)
Jeder von uns hat einen Wahrnehmungskanal, den er bevorzugt. Es ist gut, sich diesen bewusst zu machen. So kann man auch wissen, wie man am besten lernt. Über Vorträge (auditiv) oder über Skripte und Bücher (visuell) oder über beides (hören und gleichzeitig Skript mit lesen).
Das Wissen über verschiedene Wahrnehmungskanäle und wie die Menschen durch die Bevorzugung der Kanäle agieren, wurde vor allem durch das NLP untersucht (Neurolinguistisches Programmieren, entwickelt von Bandler und Grinder; NLP ist eine Sammlung von Kommunikationstechniken; es werden u.a. Konzepte aus klientenzentrierter Therapie, Gestalttherapie und Hypnotherapie verwendet).
Die folgende Einordnung ist sehr grob und ist lediglich als Orientierung gedacht. Sie dient einer ersten Übersicht.
Das Schöne an solchen Modellen ist, dass man versuchen kann, seinen eigenen und den Standort des Anderen herauszufinden. Und das dient wiederum dem Verstehen des Anderen. Und darum geht es bei der Kommunikation: dass man sich selbst besser versteht und kennen lernt und dass man auch den Anderen besser versteht und sich immer bewusst macht, woher die Verschiedenheiten und die Eigenheiten der Anderen rühren.
So wird das Verständnis, die Wertschätzung der gegenseitige Respekt vor dem Sein des Anderen gefördert.
Visuell orientierte Menschen dekorieren gerne, weil sie Schönes sehen möchten. Meist lieben sie Symmetrie. Sie sind oft modisch und stilsicher gekleidet. Es gibt auch eine visuell bezogene Sprache, anhand derer man den bevorzugten Wahrnehmungskanal erkennen kann. „Ah, ich sehe schon, die Farbe Violett passt“, „Ich habe einen sehr weitsichtigen Chef.“, „Wenn ich das so betrachte, dann…“, „Ich stelle mir das bildlich vor.“ Visuell orientierte Menschen können gut visualisieren und in Bildern denken. Sie sind daher auch gut ansprechbar auf Imaginationsübungen in der Entspannung und Therapie. Wegen der vielen Bilder in ihrem Kopf können sie große Mengen an Worten in dabei hoher Sprechgeschwindigkeit. Sie reden meist laut, schnell und viel. Ihr Gang ist geprägt von energischen Schritten und sie drehen ihren Kopf und Körper sehr schnell und zügig. Informationen nehmen sie meist und am liebsten über die Augen auf und erinnern graphische Darstellungen am besten, darum bevorzugen sie diese!
Auditiv orientierte Menschen hören feiner und differenzierter als andere. Auditiv bezogene Sprache: „Das hört sich gut an!“, „Das klingt gut!“ „Hör mal!“ Sie hören gerne und viel Musik und legen großen Wert auf gute Musikanlagen. In der Tendenz reden auditive Menschen etwas weniger als visuelle Menschen, was daran liegen kann, dass sie oft nachdenken, weil sie einen inneren Dialog führen. Sie nehmen Informationen bevorzugt mit den Ohren auf (Hörbücher, Vorträge) und können Gesprächen sehr gut folgen. Sie können gut auswendig lernen. Sie suchen weniger den direkten Augenkontakt als visuell orientierte Menschen, sondern neigen eher ein Ohr zum Gesprächspartner und lauschen („Ich bin ganz Ohr!“). Manchmal schließen sie sogar die Augen, um intensiver hören zu können und das Visuelle auszublenden (bei Musik und in Gesprächen).
Kinästhetisch orientierte Menschen mögen es, Dinge zu ertasten und sie anzufassen, sie möchten alles spüren. Sie erkennt man oft am Kleidungsstil: sie tragen oft sehr weite und bequeme Kleidung und haben meist ein langsames Sprechtempo. Da bei ihnen ein Gefühl oft erst durch ein Bild erzeugt wird im Gehirn, ist der Signalweg länger und somit haben diese Menschen eine langsamere und oft auch sanfte Sprechgeschwindigkeit. eine kinästhetisch orientierte Sprache enthält oft Bemerkungen wie: „Das fühlt sich gut an!“, „Ich begreife…!“ „Das ist angenehm!“, „Das klingt stabil!“ Sie suchen im Gespräch die Berührung. Ihre Gangart ist meist langsam und bedacht und ihre Körpersprache ist sehr beschaulich. Informationen nehmen sie gerne über das Gefühl auf und lernen daher besonders leicht, wenn sie selbst etwas machen. Sie mögen Rätsel und Geschichten.
Man kann dadurch, dass man die Wahrnehmungsebene und die daraufhin verwendete Sprache des Anderen kennt, diese auch bevorzugter verwenden, um gut mit dem Anderen zu kommunizieren.
Indem ich weiß, welchen Hauptwahrnehmungskanal der Andere nutzt, kann ich ihm in Lernsituationen auch eher Flip-Charts oder eben Podcasts als Lernmaterial zusenden.
2) Einflussfaktoren der Wahrnehmung: Was beeinflusst unsere Wahrnehmung?
Es gibt vieles, was unsere Wahrnehmung beeinflusst und sie nicht zu etwas Statischem macht: Unter anderem wird unsere Wahrnehmung beeinflusst durch unsere Biographie, durch unsere Gefühle (die wechselhaft sind), durch unsere (eventuell sehr hohen) Ansprüche, durch innere Glaubenssätze, innere Antreiber, durch die Art der Beziehung zum Anderen, auch dadurch, dass man in einer Gruppe oder in einer Zweierkonstellation ist, durch die Umgebung, unsere bisherigen Erfahrungen, natürlich durch unsere Tagesform, durch eine fehlende Sinneswahrnehmung (blind, taub), durch unser Vorwissen, unsere Ziele, eine Krankheit, durch Medien, durch Reizüberflutung (was gerade bei Hochsensiblen sehr bedeutsam ist), durch die Stimme des Anderen, durch Einnahme von Medikamente/Drogen, durch die eigene Perspektive, durch aktuelle oder generelle Bedürfnisse, durch das Aussehen der Anderen, durch unser Menschenbild, das Wesen des Anderen (aggressiv, provozierend, ängstlich), durch unsere Haltung (die immer wichtiger ist als Techniken, Haltung ist das, was sich immer äußert und zeigt, wer wir sind, auch wenn wir das durch Techniken zu überspielen versuchen!) und durch unsere Einstellung (offen, abweisend).
Diese 25 Einflussfaktoren zeigen, wie unsicher (weil abhängig von Stimmungen, Gefühlen und Tagesform) und subjektiv (da abhängig von unserer Biographie Menschenbild, Haltung und Einstellung) sowie selektiv (weil u.a. abhängig davon, was uns gerade wichtig ist) unsere Wahrnehmung ist.
Und es zeigt natürlich auch, wie anders der Andere in Wahrheit ist, als wir ihn wahrnehmen! Der Andere ist genau so, wie er ist, und das kann ganz anders sein, als wir ihn wahrnehmen. Wenn ein Mensch in einer Gruppe ist, kann er ganz anders sein als im Zweiergespräch. Und vielleicht nehmen wir den Anderen anders wahr, weil unsere Tagesform durch mangelnden Schlaf und einen cholerischen Chef, der uns gerade angebrüllt hat, nicht die Beste ist.
Der Andere ist nicht so, wie wir ihn wahrnehmen. Er ist so, wie er ist. Und wir nehmen ihn wahr, wie WIR ihn wahrnehmen. Und meist auch so, wie WIR sind, nicht wie der Andere ist.
Ein anderer Mensch nimmt genau diesen Menschen vielleicht ganz anders wahr. („Wirklich, du meinst, er sei schüchtern? Ich empfinde ihn als sehr durchsetzungsstark und offen).
Wenn wir fähig sind, innezuhalten und wahrzunehmen, was wirklich da ist – bei dem Anderen, in der Umgebung, an der Situation – OHNE zu werten (Achtsamkeit!), dann hat der Andere eine Chance, wahrgenommen zu werden, wie er ist, nicht so, wie wir ihn durch unsere, durch viele Einflussfaktoren getrübte, Brille wahrnehmen.
Kommunikation ist in erster Linie Perspektivenwechsel (wie nimmt der andere wahr?) und das ist eine große Fähigkeit. Wichtig ist auch, dass ich mich selbst besser kennen lerne und mich darin übe, mich zu reflektieren: Wie gut gelingt es mir, auch in emotional geladenen Situationen die Perspektiven zu wechseln? Wie gut vermag ich es, die Perspektive des Anderen einzunehmen und zu verstehen, warum er so denkt oder warum er etwas sagt? Wie oft kommt es vor, dass ich in Gesprächen Recht haben möchte, ohne die Perspektive des Anderen zu hören?)
Die Perspektive zu wechseln erfordert Mut und Selbstvertrauen, denn man geht von seinem Standpunkt zu dem des Anderen und fragt sich: „Warum denkt/sagt/handelt der Andere genau so und wie ist seine Sichtweise entstanden?“ Dann beginnt man, neugierig auf den Anderen zu werden. Und von sich und seinem Ego abzusehen.
Wahrnehmung ist die Grundlage für unser Dasein in der Welt. Und es ist elementar, sich bewusst zu machen, dass unsere Wahrnehmung höchst subjektiv ist. Sich davon ein wenig freier machen zu können, hilft, einander besser zu verstehen, sich besser kennenzulernen und Menschen wertfrei respektieren zu können.
© Marion Schronen