Zweinigung als Grundhaltung
Friedvoll, respektvoll und achtsam kommunizieren
„Zweinigung“ ist eine Wortneuschöpfung von Vera Birkenbihl, die ausdrückt, was wir Menschen nur selten können, weil wir es nicht in unserer Kindheit gelernt haben, den Anderen mit seiner Meinung zu respektieren und zu lernen, unterschiedliche Meinungen nebeneinander stehen zu lassen: Uns darauf einigen, dass wir verschiedener Meinung sind! Wir sind uns einig, dass wir uns in diesem Punkt nicht einig sind! Es heißt: Du darfst mit deiner Meinung da sein und ich darf mit meiner Meinung da sein – und wir sind immer noch verbunden miteinander und entzweien uns nicht. Wir einigen uns (und bleiben in der Verbundenheit und Wertschätzung), dass wir uns in diesem Punkt einfach einmal nicht einig sind. So geht Verbundenheit und so geht Kooperation. Alles andere ist Krieg im Kleinen. Und den können wir gerade in Krisenzeiten und Konfliktgesprächen überhaupt nicht gebrauchen. Krisen und Konflikte schlauchen jeden Einzelnen schon mehr als genug.
Gerade in einer Krisenzeit und bei Konflikten, in der jede/r seine eigene Wahrnehmung und Sicht der Dinge hat, in der jede/r seine eigenen Empfindungen und Verletzlichkeiten hat, in der jede/r mit seinen Vorstellungen über zu frühe oder zu wenige Lockerungen, zu strenge oder zu lasche Vorgaben hat – gerade in der Krise brauchen wir diese Haltung, die Respekt ausdrückt und essentiell ist für jede Begegnung und jede Kommunikation: Den Anderen in seiner Meinung wertschätzen und ihn respektieren. Den Anderen so lassen, wie er ist, weil jeder Mensch seine eigene Wahrheit hat.
Gerade auch in dieser Corona-Krisenzeit, die uns alle betrifft, erlebe ich oft das Gegenteil: Wer nicht meiner Meinung ist, wird angefeindet. Wer Lockerungen als zu streng wahrnimmt, ist Verschwörungstheoretiker oder Aluhutträger. Wer sie als angemessen empfindet, ist autoritätsgläubig. Wer aus gesundheitlichen Gründen keine Maske anziehen kann, dem wird unterstellt, dass er das nur vortäuscht. Wer heutzutage hustet, muss aufpassen, dass er schnellstens das Weite sucht, bevor ihm andere vorwerfen, er/sie sei schuld, wenn die eigenen Großeltern oder Eltern sterben (Alles genau so geschehen in den letzten Wochen). Längst sind ethische Grenzen überschritten. Längst ist die Frage, ob die körperliche Gesundheit wichtiger ist als die seelisch-emotionale Gesundheit, angerissen. Wenn ein Psychiater Bedenken hierzu äußert, wird er offiziell im Internet diffamiert. Längst geschehen! Selbst Mediziner werden mit Schimpfworten belegt, nur weil sie anderer Meinung sind als ihre Kollegen.
Ich wünsche uns allen, dass wir es anders (vor)machen und „Zweinigung“ vorleben!!
„Zweinigen“ als Haltung in einer Kommunikation
Wenn wir im Verlauf eines (Konflikt-)Gesprächs erkennen, dass wir unterschiedlicher Meinung sind, dass keiner den Anderen überzeugen kann, aus welchem Grund auch immer, haben wir verschiedene Möglichkeiten: Wir können manipulieren, emotional erpressen, einfach aneinander vorbei reden oder die Kommunikation beenden. Das sind in unfaire Strategien, um den eigenen Willen durchzusetzen oder um zu zeigen, dass man die Wahrheit besitzt, die der Andere nur nicht versteht. Die Verbundenheit wird hierdurch zerstört und es ist keine konstruktive Kommunikation mehr möglich. Ein kraftvoller Weg, bei der die Verbundenheit bestehen und die Kommunikation konstruktiv bleibt, ist es, anzuerkennen, dass wir uns in diesem einen Punkt nicht einigen können. Wenn wir uns gemeinsam darauf einigen, dass wir uns nicht einigen können, dann entzweien wir uns nicht, aber wir einigen uns auch nicht bei dem Thema – wir „zweinigen“ uns. Das schafft über die Uneinigkeit, was das Thema betrifft, menschliche und kommunikative Einigkeit! Ein friedvoller Weg, der gerade in Kommunikationssituationen wertvoll ist! Durch diese tolerante, wertschätzende und respektvolle Haltung dem Anderen gegenüber wird ein weiterer Dialog überhaupt erst ermöglicht.
Anstatt das gesamten Gespräch als gescheitert zu betrachten, gelingt es durch diese Kommunikationsstrategie, das Gespräch im Fluss zu halten, das ansonsten zum Scheitern verurteilt wäre.
Voraussetzungen für „Zweinigung“
„Zweinigung“ setzt bei den Gesprächspartnern ein hohes Maß an innerer Gelassenheit, Empathie, Selbstvertrauen und professioneller Toleranz voraus. Der Grundsatz „Was für mich gilt, gilt nicht automatisch für andere!“ ist ein schöner Satz, der aber selten befolgt wird – und je hitziger das Gespräch ist, um so größer wird der Wunsch, durch starke Argumente und laute Stimme den Anderen zu überzeugen und ihn zu den Denkweisen oder zu Handlungen bewegen, die wir für richtig halten. Das bewirkt jedoch meistens ein inneres Abschalten bei dem Anderen, weil er sich weder gehört noch respektiert fühlt.
Das heißt nicht, dass ich die Meinung des Anderen übernehmen muss, ich muss ihn nicht einmal verstehen, sondern seine Denkweise als gleichwertig akzeptieren und neben meiner stehen lassen können. Dann wird es zu einem Gespräch, das Möglichkeiten und Kreativität vergrößert.
Wenn wir es schaffen, bei einem schwierigen Gespräch innerlich zurück zu treten und als innerer Beobachter zu erkennen, dass niemand seine eigenen Meinungen, seine Werte und Ideale sowie Überzeugungen aufgeben muss, wenn man sich „zweinigt“, dann kann man das genau so aussprechen: „Wir einigen uns einfach darauf, dass wir uns in diesem Punkt nicht einigen können!“ und hat somit einen friedvollen Weg eingeschlagen und alle Gesprächspartner noch mit im Boot.
Hier könnt Ihr Euch ein Video von Vera Birkenbihl zur „Zweinigung“ anschauen (und ihr schönes Bild von der Insel, in der jeder Mensch lebt):
Ich wünsche uns allen, dass wir mit unserer Meinung akzeptiert und wertgeschätzt werden, gerade dann, wenn sie anders ist als die Meinung desjenigen, mit dem wir uns unterhalten. Immer, und gerade in herausfordernden Zeiten! Ich wünsche uns, dass wir Meinungen akzeptieren und wertschätzen, gerade dann, wenn sie so ganz anders sind als unsere eigene. Ich wünsche uns allen, dass wir damit ein Beispiel sind für Kommunikation und Haltung, die Frieden und Verbundenheit fördert. Etwas, das (nicht nur, aber gerade jetzt) so sehr not tut.
Dass wir immer mehr Zweinigung als Haltung entwickeln, das wünsche ich uns. Es wäre eine Hommage an die große Vera Birkenbihl!
© Marion Schronen